Kinder aus sozial schwachen Familien und Elternhäusern mit einem geringen Bildungsgrad brauchen mehr Aufmerksamkeit seitens Politik und Gesellschaft. Sie benötigen qualitativ hochwertige Betreuung sowie zusätzliche Bildungsangebote und das möglichst bereits im Vorschulalter. Das forderten die Sachverständigen in einem Expertengespräch der Kinderkommission des Deutschen Bundestages (Kiko) zum Thema „Kinderarmut und Bildung“.
Erhöhtes Armutsrisiko für Kinder
Mit 13 Prozent hat die Zahl der unter 18-jährigen Kinder, die in Bedarfsgemeinschaften leben, 2021deutlich über dem Wert der Gesamtbevölkerung (8 Prozent) gelegen. Risiken für Kinder bestehen nicht nur durch ein geringes Haushaltseinkommen der Familie, verursacht etwa durch Arbeitslosigkeit der Eltern, sondern auch durch einen geringen Bildungsgrad der Erziehungsberechtigten. Dr. Irina Volf vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik: „Kinder mit formal gering gebildeten Eltern weisen ein deutlich höheres Armutsrisiko auf.“
Eltern mit geringerer Schulbildung lesen ihren Kindern weniger vor, die schulische Bildung der Kinder leidet unter deren häuslicher Bildungssituation und der Bildungsstand der Eltern ist auch mitentscheidend dafür, was für Bildungsangebote Familien und ihre Kinder im außerschulischen Bereich nutzen. Das Risiko für Armut steigt zudem in der Gruppe der Kinder mit einem alleinerziehenden Elternteil sowie bei Kindern mit Migrationshintergrund. Oft sind Kinder in armen und bildungsfernen Haushalten einer ganzen Reihe von Belastungen ausgesetzt, zu den materiellen kommen soziale Entbehrungen hinzu. Schließlich leidet die Gesundheit der Kinder und es kommt zu Entwicklungsverzögerungen. Besonders frustrierend; Die chancenmindernden Lebensverhältnisse werden oft von Generation zu Generation weitergegeben.
Kita-Qualität und Spracherwerb entscheidend
Abhilfe kabb ein früher Kita-Zugang für Kinder aus Familien mit niedrigem sozio- ökonomischem Status schaffen. Zudem muss die Qualität des Kita-Angebots verbessert werden. Der Besuch zusätzlicher Bildungsangebote in den Bereichen Musik, Sport und Spracherwerb sollte gefördert werden. Die Familien in ihrer Gesamtheit müssen stärker frühzeitig, wenn die Kinder noch klein sind, durch Bildungsangebote unterstützt werden.
Auf Kinder mit nichtdeutscher Familiensprache, immerhin 20 Prozent der Kita-Kinder, muss besonderes Augenmerk gerichtet werden. Bei ihnen kommt es auf einen frühzeitigen und umfassenden Spracherwerb an. „Die brauchen das ‚Sprachbad‘ der Kita so früh wie möglich.“ Das Auslaufen der Förderung der Sprachkitas durch den Bund bezeichnet Dr. Susanne Patricia Lochner vom Deutschen Jugendinstitut als Katastrophe. Je früher man in die Ausbildung der Kinder investiere, desto besser seien die aufgewendeten Mittel gesellschaftlich angelegt.
„Risiko für eine altersgemäße Entwicklung“
„Armut ist mehr als der Mangel an Geld, sondern eine prägende Lebensbedingung, die mit vielen Einschränkungen und Benachteiligungen einhergeht“, sagte Dr. Irina Volf vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, die Projekte und die Ergebnisse einer Langzeitstudie zur Unterstützung benachteiligter Kinder und Jugendlicher vorstellte.
„Kinderarmut ist vor allem Familienarmut“, die Kinder sind diesem Zustand ausgesetzt, ohne dass es bislang eine Hoffnung auf Besserung gibt, eine Dauerkrise. Armut „als Risiko für eine altersgemäße Entwicklung“ hat „weitreichende Konsequenzen für den gesamten Bildungsverlauf“, sie behindert die Betroffenen oft ihr Leben lang. Kinder aus armen Familien erreichen meist schlechtere Bildungsabschlüsse und leiden unter gesundheitlichen Problemen.
Gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Es gilt, betroffene Kinder vor allem in den Übergangsphasen vom Kleinkindalter zur Schule sowie zwischen Schule und Erwachsenenleben zu begleiten, um den „Kreislauf der Armut zu durchbrechen“. Staat und Gesellschaft müssen ein hohes Interesse daran haben, dass Kindern und Jugendlichen ihr Lebenslauf gelinge. „Die Bekämpfung der Kinderarmut ist als gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Die Berücksichtigung der Lebenslagen von Familien muss Standard werden“, fordert Volf.
Es besteht ein akuter Bedarf an institutioneller Förderung von Kindern, die in armen Familien aufwachsen. Alarmierend ist, dass Vierjährige in armen Familien lediglich 50 Prozent der altersgemäßen Techniken beherrschten. In den evaluierten Projekten hat sich gezeigt, dass die Förderung vor allem bei sehr stark von Armut betroffenen Familien Wirkung gezeigt hat.
Individuelle, talentorientierte Förderung
Ein früher Zugang zur institutionellen Betreuung, längere Betreuungszeiten und Kleingruppen sind insbesondere für arme Kinder wichtig. Eine „individuelle, talentorientierte Förderung“ kann einen messbaren Beitrag zu größerer Chancengerechtigkeit am Übergang von der Kita zur Schule leisten. „Kinder können ihre Talente überhaupt erst entwickeln, wenn sie eine Chance dazu bekommen“, so die Sachverständige.
Vielen fehlt es zudem an „Selbstwirksamkeitserfahrung“. Nur wenn Kinder die Erfahrung machen, dass sie aus eigener Kraft etwas schaffen und bewirken können, wachsen sie auch zu mündigen Staatsbürgern heran, die Interesse an der Gestaltung des Gemeinwesens und an der Politik zeigen. Sowohl die in der Erziehung tätigen Fachkräfte als auch die Politik müssen stärker für das Thema Armut sensibilisiert werden und diesen Aspekt in ihre Arbeit integrieren, Regierung und Parlament sollten sämtliche „Entscheidungen armutsbewusst treffen“, um die Zukunft armutsgefährdeter Kinder nicht zu verspielen.
„Ungünstige strukturelle Rahmenbedingung“
Kinderarmut trifft in Deutschland auf sehr ungünstige strukturelle Rahmenbedingung des öffentlichen Erziehungs- und Bildungswesens, sagt Prof. Dr. Birgit Herz vom Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover. Der gesamte Bereich sei chronisch unterfinanziert, ja „verarmt“. Das sei angesichts der individuellen Lage vieler Kinder sowie der gesellschaftlichen Bedeutung des Themas verantwortungslos. Die unzureichende personelle Ausstattung führe dazu, dass viele engagierte Erzieher und Lehrer unter den derzeitigen Bedingungen überfordert seien.
Sie riet, den Blick in der deutschen Debatte stärker auf Erfolge in anderen Ländern zu richten. Während das deutsche Schulsystem früh erfolgreiche von weniger erfolgreichen Kindern trenne und auf diese Weise Chancen auf bestimmte Gruppen verteile, habe man in Finnland mit einer stärkeren Betonung des „Community Verständnisses“ gute Erfahrungen gemacht. Von der Geburt an würden Kinder dort am Wohnort durch einen Paten und Ansprechpartner begleitet. Viel weniger Kinder würden dadurch Schwierigkeiten in der Schule haben oder diese ohne Abschluss verlassen.
„Illusion der Chancengleichheit“
In Frankreich wirke ein stark ausgebautes Privatschulsystem als gesellschaftlicher Stabilisator. In Deutschland müsse man weg kommen von dem Ansatz der Individualisierung junger Menschen und sich stärker einer gemeinschaftsorientierten Förderung verschreiben. Eine armutsorientierte Kinder- und Jugendpolitik müsse politikfeldübergreifend handeln, die Lebenssituation der Kinder von der Armut der Erwachsenen entkoppeln, in frühkindliche Bildung, Schulen und Stadtteilentwicklung investieren, die beteiligten Erwachsenen unterstützen sowie eine konstante Forschungsförderung zu dem Thema gewährleisten.
Herz mahnt, sich „von der Illusion der Chancengleichheit“ zu „verabschieden“. Daran habe sie noch als angehende Forscherin vor 50 Jahren geglaubt. Aber heute müsse es darum gehen, den jungen Menschen ihren Platz in der Arbeitswelt der Zukunft zu schaffen oder sie auf ein Leben in Nichterwerbstätigkeit vorzubereiten. Dass „alle alles machen können“ sei „eine Illusion“. Dieser Inklusionsanspruch sei zudem überhaupt nicht mehr zu finanzieren. Es könne künftig lediglich darum gehen, bestimmte Härtelagen abzumildern. „Wir müssen die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft im Blick behalten. Inklusion und Integration können wir nicht völlig losgelöst von der weltwirtschaftlichen Entwicklung machen.“